Das Jesuskind
(Übersetzung: Inés Koebel und Georg Rudolf Lind)
Der Text im Video zum nachlesen
Das Jesuskind
Gedicht von Alberto Caeiro
Übersetzung von Inés Koebel und Georg Rudolf Lind.
Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags
Konzeption und Durchführung: Theatergruppe im LabSaal Vasco Esteves als alter Mann Funda Orrisch als Enkelin Hintergrundmusik: „O Jasmim“ von Rodrigo Leão
Alter Mann
Num meio-dia de fim de Primavera
Tive um sonho como uma fotografia:
Vi Jesus descer à terra!
Enkelin
Bitte bitte, Opa, erzähle mir lieber auf Deutsch…
Alter Mann
An einem Mittag gegen Frühlingsende
, hatte ich einen Traum deutlich wie eine Fotografie:
Ich sah Jesus Christus auf die Erde kommen!
Enkelin
Unglaublich! Und was hast Du genau gesehen?
Alter Mann
Den Hang eines Berges hinab,
wieder zum Kind geworden,
lief und rollte er durchs Gras:
Er war dem Himmel entflogen!
Enkelin
Aber warum?
Alter Mann
Im Himmel war alles falsch, stand alles im Missklang.
Im Himmel musste er immer ernsthaft bleiben
und immer wieder aufs Neue Mensch werden
und hoch ans Kreuz und sterben!
Mit einer Dornenkrone
und Nägeldurchbohrten Füßen
und mit einem Tuch um die Hüften.
Enkelin
Und was war mit seinem Vater?
Alter Mann
Zwei Personen waren sein Vater:
Ein Alter namens Joseph, ein Zimmermann und der war nicht, er war nicht sein Vater!
Und der andere Vater
war in der Welt die einzige hässliche Taube…
Enkelin
Aber mit seiner Mutter war doch alles in Ordnung, oder?
Alter Mann
Seine Mutter hatte nicht geliebt, bevor sie ihn gebar!
Sie war keine Frau: sie war ein Koffer
In dem er vom Himmel kam.
Und er, der nur Kind einer Mutter war,
aber nie einen Vater hatte, den er achten und lieben konnte,
sollte Güte predigen? und Gerechtigkeit?
Enkelin
Oh-gott-oh-Gott!
Und wo wohnt jetzt, der kleine Jesus?
Alter Mann
Er lebt bei mir in einem Dorf,
pflückt Blumen, freut sich daran und vergisst sie!
Er ist ein Kind mit einem hübschen Lachen – und natürlich!
Enkelin
Was meinst Du mit „natürlich“?
Alter Mann
Er planscht in den Pfützen,
wischt sich die Nase mit dem rechten Arm,
und läuft schreiend und heulend vor den Hunden davon…
Enkelin
Hat er Angst vor Tieren?
Alter Mann
Wirft mit Steinen nach den Eseln,
stiehlt Obst aus den Gärten,
läuft den Mädchen nach
, die in Gruppen über die Straße ziehen, mit einem Krug auf dem Kopf, und hebt Ihnen die Röcke hoch!
Enkelin
So was! Ein richtiger „Streuner“, also…
Alter Mann
Er zeigt mir, wie hübsch die Steine sind,
wenn wir sie in den Händen halten
und mit Muße betrachten…
Er ist das Menschliche,
er ist das Göttliche, das lächelt und spielt.
Und darum weiß ich mit aller Gewissheit:
Er ist das wahre Jesuskind !
Enkelin
Und wie findet er uns, Menschen?
Alter Mann
Ich erzähle ihm Geschichten nur von uns Menschen, und er lächelt, weil alles so unglaublich klingt.
Verlacht die Könige und die Nichtkönige
und es tut ihm weh von Kriegen zu hören…
Enkelin
Kann ich gut verstehen…
Alter Mann
Er sagt, Gott verstehe nichts
verstehe nichts von den Dingen, die er schuf…
Dann schlummert er ein, ich trage ihn ins Haus
und bringe ihn zu Bett…
Alter Mann
Das ist die Geschichte von meinem Jesuskind!
Enkelin
Opa, das ist die Geschichte von Deinem Jesuskind!